Dr.
Alexander Bissels und Kira Falter
Die
Überlassungshöchstdauer in der Arbeitnehmerüberlassung: Erneut
ein Fall für den EuGH!
Seit
dem 01.04.2017 gilt – zur Konkretisierung des Merkmals
"vorübergehend" – eine grundsätzliche
Überlassungshöchstdauer von 18 Monaten (§ 1 Abs. 1 S. 4, Abs.
1b AÜG). Das Gesetz sieht in einem komplexen System zahlreiche
Möglichkeiten vor, diese zu verlängern (oder zu verkürzen),
insbesondere durch einen Tarifvertrag der jeweiligen
Einsatzbranche oder aufgrund von kundenseitig geschlossenen
Betriebsvereinbarungen.
In
diesem Zusammenhang sind inzwischen zahlreiche Rechtsfragen vom
EuGH und BAG geklärt worden. Insbesondere steht fest, dass die
Rechtsgrundlagen zur Verlängerung der gesetzlichen
Überlassungshöchstdauer nach § 1 Abs. 1b S. 3, 5 AÜG
verfassungs- und europarechtskonform sind und die Verlängerung
der Überlassungshöchstdauer auf bis zu 48 Monate wirksam ist
(vgl. BAG v. 14.09.2022 – 4 AZR 83/21).
Dennoch
ist die Überlassungshöchstdauer jüngst erneut zum
(gerichtlichen) Streitfall geworden, nämlich hinsichtlich der
Frage, wie mit Einsatzzeiten zur Bestimmung der
Überlassungshöchstdauer umzugehen ist, wenn:
-
der Zeitarbeitnehmer an ein Kundenunternehmen überlassen wird,
-
ein Betriebsübergang auf Kundenseite stattfindet und
-
der Zeitarbeitnehmer – wie vorher an den Veräußerer, aber in
der Regel auf Grundlage eines neu geschlossenen
Arbeitnehmerüberlassungsvertrages – an den Erwerber (nahtlos)
weiter überlassen wird.
Mit
einem solchen Fall hat sich zunächst das LAG Hamm und jüngst das
BAG befassen müssen.
I.
Zusammenfassung der Entscheidung
Der
klagende Zeitarbeitnehmer wurde – vereinfacht dargestellt –
seit dem 16.06.2017 an die C-AG, ein Produktionsunternehmen,
überlassen. Zum 01.07.2018 fand bei dieser ein Betriebsübergang
auf die Beklagte statt. Der Zeitarbeitnehmer wurde im Rahmen des
mit dem Personaldienstleister bestehenden Arbeitsverhältnisses
durchgängig bis zum 06.04.2022 auf demselben Arbeitsplatz als
Kommissionierer zunächst bei der C-AG und sodann bei der
Beklagten eingesetzt und reklamiert nun die Fiktion eines
Arbeitsverhältnisses wegen der Überschreitung der maßgeblichen
Überlassungshöchstdauer, wobei streitig ist, ob diese wirksam
auf 48 Monate verlängert wurde. Dabei berief sich der Kläger auf
die Einsatzzeiten ab dem 16.06.2017. Das Produktionsunternehmen
als Betriebsveräußerer (und "Erstentleiher") und die
Beklagte als Betriebserwerberin (und "Zweitentleiherin")
seien – so der Kläger – im Sinne des Gesetzes als derselbe
Entleiher anzusehen.
Die
Beklagte vertritt – insoweit wenig überraschend – die
gegenteilige Auffassung. Im Fall eines Betriebsübergangs des
Einsatzbetriebs auf einen anderen Inhaber beginne die
Überlassungshöchstdauer neu zu laufen. Dies gelte auch dann,
wenn der Zeitarbeitnehmer nach dem Übergang des Betriebs
unverändert auf demselben Arbeitsplatz eingesetzt werde.
Das
LAG Hamm gab der Klage statt (Urt. v. 18.10.2023 – 10 Sa 353/23)
und folgte damit der vom Zeitarbeitnehmer vertretenen Auffassung
Ein
Betriebsübergang gem. § 613a BGB führt – jedenfalls bis zur
Grenze des Rechtsmissbrauchs – zumindest nach bislang
herrschender Ansicht (vgl. dazu: Schüren/Hamann, § 1 AÜG Rn.
311) dazu, dass die Überlassungshöchstdauer für einen bei dem
Veräußerer und sodann bei dem Erwerber weiterhin eingesetzten
Zeitarbeitnehmer erneut und ohne Anrechnung der Einsatzzeiten bei
dem Veräußerer ausgeschöpft werden darf. Eine Anrechnung oder
Fortschreibung der bei dem Veräußerer (= "Erstentleiher)
zurückgelegten Überlassungsdauer findet bei dem Erwerber (=
"Zweitentleiher") nicht statt. Hintergrund ist, dass
nach der ganz überwiegenden Ansicht in Rechtsprechung und
Literatur ein unternehmens- und kein betriebsbezogener formeller
Entleiherbegriff gilt (vgl. nur: Bissels/Falter, ArbR 2017, 5).
Bei einem Betriebsübergang findet ein Rechtsträgerwechsel statt.
Der Erwerber ist folglich ein anderer "Entleiher" als
der Veräußerer – die Überlassungshöchstdauer beginnt bei
Null und kann grundsätzlich neu ausgeschöpft werden. Dies gilt
grundsätzlich auch, wenn der Zeitarbeitnehmer nach dem
Betriebsübergang von dem Erwerber auf demselben Arbeitsplatz
beschäftigt wird, auf dem er bereits vor dem Betriebsübergang
von dem Veräußerer eingesetzt worden ist.
Diese
Ansicht ist vom LAG Hamm aus europarechtlichen Erwägungen –
überraschenderweise – zumindest "angezählt" worden.
Zunächst
führt das Gericht – insoweit richtig und überzeugend – aus,
dass der auf Seiten des beklagten Kundenunternehmens
stattgefundene Betriebsteilübergang nicht unmittelbar zu einem
Übergang des Arbeitsverhältnisses des klagenden
Zeitarbeitnehmers nach § 613a BGB führt. Betroffen von einem
Betriebsübergang sind nämlich grundsätzlich nur die
Arbeitsverhältnisse der bei dem Veräußerer beschäftigten
Stammarbeitnehmer, die nun qua Gesetz auf den Erwerber übergehen,
nicht aber die Arbeitsverhältnisse der bei einem Dritten,
nämlich bei einem Personaldienstleister angestellten
Zeitarbeitnehmer. Dies gilt nach Auffassung des LAG Hamm auch
unter Berücksichtigung einer Entscheidung des EuGH vom 21.10.2010
(Rs. C-242/09), die zur konzerninternen Arbeitnehmerüberlassung
ergangen ist und in der der EuGH einen „nichtvertraglichen
Arbeitgeber“ anerkennt.
Selbst
bei einer Übertragung des Urteils auf Fälle außerhalb der
konzerninternen Arbeitnehmerüberlassung würde – so das LAG
Hamm – die geforderte Weitergewährung geltender
Arbeitsbedingungen keinen Arbeitgeberwechsel nach sich ziehen.
Unmittelbare Wirkungen könne § 613a BGB nur im Verhältnis des
klagenden Zeitarbeitnehmers zu seinem Arbeitgeber, nämlich dem
Personaldienstleister, entfalten. Zwischen dem Kläger und dem
Kunden habe aber zu keinem Zeitpunkt ein Arbeitsverhältnis
bestanden, so dass ein solches nicht habe übergehen können; erst
recht werde ein solches neues Arbeitsverhältnis durch den
Betriebsübergang nicht begründet. Darüber hinaus verbiete es §
613a BGB dem Erwerber nicht, im Anschluss an den Betriebsübergang
seinerseits frei darüber zu entscheiden, ob und mit welchem
Personaldienstleister er zukünftig die Aufgaben bewältigen
wolle. § 613a BGB verfolge nicht den Zweck, ihm außerhalb
bestehender Arbeitsverhältnisse die Fortsetzung des Vertrages zu
einem Zeitarbeitsunternehmen aufzubürden.
Das
LAG Hamm geht allerdings über diese Erwägungen hinaus und stellt
fest, dass es § 1 Abs. 1b AÜG bei einer richtlinienkonformen
Auslegung gebiete, die Einsatzzeiten des klagenden
Zeitarbeitnehmers seit dem 16.06.2017 anzurechnen, wenn – wie
vorliegend – der Betriebsübergang auf Seiten des Kunden gerade
nicht zu einer Zäsur hinsichtlich des Einsatzes geführt habe,
sondern die bisherige Tätigkeit tatsächlich nahtlos, nämlich
bei dem beklagten Erwerber, fortgesetzt werde. Die Wertung von §
1 Abs. 1b AÜG zeige, dass durch einen bloß formalen Wechsel der
beteiligten Arbeitgeber die Überlassungshöchstgrenzen nicht
umgangen werden dürften.
Zwar
gehe – so das LAG Hamm – das BAG im Rahmen des § 14 Abs. 2 S.
2 TzBfG weiter ebenfalls von einem streng formellen
Arbeitgeberbegriff aus (Urt. v. 05.04.2023 – 7 AZR 224/22) und
stelle gerade nicht auf die Tätigkeit im Betrieb ab, jedoch sei
der dort zu beurteilende Begriff der Vorbeschäftigung nach § 14
TzBfG nicht gleichzusetzen mit der Überlassungsdauer nach dem
AÜG. Das BAG habe zu § 1 Abs. 1 b S. 1 AÜG sodann geurteilt,
dass die Überlassungsdauer arbeitnehmer- und nicht
arbeitsplatzbezogen zu bestimmen sei. Das BAG habe dazu
ausgeführt, dass es auf die Dauer der Eingliederung in die
Arbeitsorganisation des Kunden ankomme (vgl. BAG v. 05.04.2023 –
7 AZR 224/22, Rn. 19 unter Verweis auf BAG v. 14.09.2022 – 4 AZR
26/21, Rn. 14 ff.). Diese Wendung wiederum beziehe sich auf die
vor dem Beschluss des EuGH vom 17.03.2022 (Rs. C-232/20) noch
streitige und nunmehr geklärte Frage, ob wegen des nur
vorübergehenden Charakters der Zeitarbeit die Berechnung der
Überlassungshöchstdauer arbeitsplatz- oder arbeitnehmerbezogen
erfolgen müsse. Geklärt sei nunmehr, dass ein etwaiger
Dauerbedarf des Kunden auf einem bestimmten Arbeitsplatz dem
Merkmal vorübergehend nicht entgegenstehe. Eine Aussage darüber,
ob es auf einen formellen Arbeitgeberbegriff ankomme, sei damit
allerdings nicht getroffen worden.
Der
klagende Zeitarbeitnehmer sei – so das LAG Hamm – bereits seit
dem 16.06.2017 faktisch auf einund demselben Arbeitsplatz tätig
gewesen. Durch den Betriebsübergang zum 01.07.2018 habe sich
tatsächlich nichts für ihn verändert. Auch die Beklagte berufe
sich nicht etwa auf veränderte Vertragsbedingungen. Der
Schutzzweck des § 1 Abs. 1b AÜG und der Zeitarbeitsrichtlinie
2008/104/EG verlange, diese Beschäftigungsdauer anzurechnen, da
das Abstellen auf einen formalen Entleiherbegriff zwar für die
Entstehung bzw. den rechtlichen Übergang eines (...)
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