Heft 09/2023

Heft September 2023

"Blickpunkt Dienstleistung" Heft 09/23 - Inhalt

  • Aktuelles Rekrutierungskonzept „Open Hiring“.

  • Dr. Alexander Bissels und Dr. Jonas Singraven Das sog. Gesamtschutzverfahren des BAG: Die vollständig abgesetzten Gründe liegen (endlich) vor!

  • Arbeitsvolumen im zweiten Quartal 2023 erreicht erstmals wieder das Vorkrisenniveau

  • Wechsel im Vorstand des Personaldienstleisters Hays

  • Mit Anwesenheitsprämien die Krankheitstage reduzieren? – Das sagt das Arbeitsrecht

  • ManpowerGroup Arbeitsmarktbarometer für Q4/2023 Personalplanung in Deutschlands Unternehmen vorsichtiger – Arbeitsmarktbarometer zeigt rückläufige Einstellungsbereitschaft

  • Landesarbeitsgericht Düsseldorf_ Trinkgelage beim Arbeitgeber nach der Weihnachtsfeier – Arbeitsverhältnis beendet

  • Rechtsanwalt Christian Andorfer und Rechtsanwältin Tseja Tsankova-Herrtwich SG Tier: Werkvertrag oder illegale Arbeitnehmerüberlassung am Bau?

  • Konjunkturflaute dämpft Arbeitsmarkt

  • BAP Job-Navigator 9/2023: »Ausbildungsangebot nach Berufsgruppen« Azubis werden als Fachkräfte von morgen händeringend gesucht

  • Stille Reserve am Arbeitsmarkt im Jahr 2022 bei 3,0 Millionen Menschen

Leseprobe

Dr. Alexander Bissels und Dr. Jonas Singraven

Das sog. Gesamtschutzverfahren des BAG: Die vollständig abgesetzten Gründe liegen (endlich) vor!

Die Katze ist bereits seit dem 31.05.2023 aus dem Sack! Das BAG hat festgestellt, dass die Tarifwerke der Zeitarbeit die europarechtlichen Vorgaben erfüllen und folglich eine wirksame Grundlage darstellen, um vom Gleichstellungsgrundsatz (hinsichtlich des Entgelts) abweichen zu können. Der 5. Senat fasst das Ergebnis des sog. „Gesamtschutzverfahrens“ wie folgt zusammen (Az. 5 AZR 143/19):

„Das vom Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen mit der Gewerkschaft ver.di geschlossene Tarifwerk zur Leiharbeit, das vom Grundsatz des gleichen Arbeitsentgelts (§ 8 Abs. 1 S. 1 AÜG bzw. § 10 Abs. 4 S. 1 AÜG a.F.) "nach unten" abweicht, genügt den unionsrechtlichen Anforderungen des Art. 5 Abs. 3 Richtlinie 2008/104/EG.“

Im Vorfeld zu der Entscheidung waren zahlreiche Stimmen zu vernehmen, die einen abweichenden Ausgang – aus Branchensicht – im negativen Sinne erwartet oder prognostiziert haben. Vor diesem Hintergrund war das Aufatmen der Zeitarbeitsunternehmen bereits am 31.05.2023 deutlich zu vernehmen. Auch wenn sich die wesentlichen Grundzüge und Erwägungen, die das BAG der Entscheidung zugrunde gelegt hat, schon aus der bereits am 31.05.2023 veröffentlichen Pressemitteilung entnehmen ließen, durfte man auf die vollständig abgesetzten Gründe des Urteils, gerade mit Blick auf befristet auf den Einsatz synchronisiert abgeschlossene Arbeitsverhältnisse, gespannt sein. Diese liegen nun seit Mitte September 2023 vor.

I. Zusammenfassung der Entscheidung

Die Begründung des 5. Senats lässt sich dabei wie folgt zusammenfassen:

Die Klägerin war aufgrund eines für die Zeit vom 04.04.2016 bis zum 04.04.2017 befristeten Arbeitsvertrags bei dem beklagten Personaldienstleister als Zeitarbeitnehmerin beschäftigt. Sie erhielt im Januar und Februar 2017 einen Stundenlohn von 9,00 EUR brutto, in den Folgemonaten von 9,23 EUR brutto. Die Klägerin ist Mitglied von ver.di, die Beklagte gehört dem iGZ an.

Nachdem die Klägerin von der Beklagten eine weitere Vergütung für den Zeitraum Januar bis April 2017 erfolglos gefordert hatte, klage sie auf Zahlung einer Differenz in Höhe von 1.296,72 Euro brutto und behauptet, vergleichbare Stammarbeitnehmer der Entleiherin seien nach dem Lohntarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer im Einzelhandel in Bayern vergütet worden und hätten im Streitzeitraum eine – vom tariflichen Monatslohn heruntergerechnete – Stundenvergütung von 13,64 EUR brutto erhalten. Sie meint, die Tariföffnung im AÜG sowie die auf ihr Arbeitsverhältnis Anwendung findenden Tarifverträge seien mit Art. 5 Abs. 3 der Zeitarbeitsrichtlinie vom 19.11.2008 (nachfolgend kurz: RiLi) nicht vereinbar, weil sie den Gesamtschutz von Zeitarbeitnehmern nicht ausreichend achteten.

Dieser Ansicht folgten weder das ArbG Würzburg noch das LAG Nürnberg. Das BAG legte den Fall zunächst dem EuGH vor (Beschl. v. 16.12.2020 – 5 AZR 143/19 (A) und hat diesen um die Beantwortung mehrerer Rechtsfragen zur Auslegung und Anwendung von Art. 5 Abs. 3 RiLi und zu der dort verlangten, aber nicht näher definierten „Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern“ ersucht. Auf Grundlage der Entscheidung des EuGH vom 15.12.2022 (Rs. C- 311/21) wies das BAG schließlich die von der Klägerin eingelegte Revision zurück und bestätigte damit die Urteile der Instanzgerichte.

Die Klägerin habe keinen Anspruch auf eine weitere Vergütung unter dem Gesichtspunkt der Gleichstellung. Die Beklagte sei nur zur Zahlung des tariflichen Arbeitsentgelts verpflichtet. Für das Arbeitsverhältnis gölten kraft der beiderseitigen Tarifgebundenheit die von iGZ und ver.di für die Zeitarbeitsbranche geschlossenen Tarifverträge, die vom Gleichstellungsgrundsatz abwichen. Diese seien nach nationalem Tarifrecht wirksam und unterschritten nicht die in einer Rechtsverordnung nach § 3a Abs. 2 AÜG festgesetzten Mindeststundenentgelte oder den im Streitzeitraum geltenden gesetzlichen Mindestlohn. 

Zunächst sei die Klägerin nach allgemeinen Grundsätzen zur Höhe des Anspruchs auf gleiches Arbeitsentgelt darlegungs- und beweispflichtig. Treffe deren (von der Beklagten bestrittene) Behauptung zur Vergütung vergleichbarer Stammarbeitnehmer zu, weiche das Tarifwerk von iGZ und ver.di im Hinblick auf die streitgegenständliche wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingung „Arbeitsentgelt“ vom Grundsatz der Gleichstellung ab.

Der nationale Gesetzgeber sei bei der Zulassung von Abweichungen vom Gleichstellungsgrundsatz durch Tarifvertrag davon ausgegangen, dass nach deutschem Arbeitsrecht Tarifverträgen grundsätzlich eine Richtigkeitsgewähr zukomme. Zudem stehe den Tarifvertragsparteien aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Sie hätten außerdem eine Einschätzungsprärogative, soweit die tatsächlichen Gegebenheiten, die betroffenen Interessen und die Regelungsfolgen zu beurteilen seien. Darüber hinaus verfügten sie über einen Beurteilungsspielraum hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung der tariflichen Bestimmungen. Durch die hohen Anforderungen, die die Rechtsprechung an die Tariffähigkeit einer Gewerkschaft stelle, sei jedenfalls seit dem CGZPBeschluss des BAG vom 14.12.2010 (Az. 1 ABR 19/10) außerdem ein Missbrauch der Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz durch Tarifvertrag mit Hilfe arbeitgebernaher „Arbeitnehmervereinigungen“ praktisch ausgeschlossen. Die Personaldienstleister seien vielmehr für Abweichungen vom Gleichstellungsgrundsatz auf die DGB-Gewerkschaften, wie ver.di, geradezu angewiesen. Gleichwohl sei der 5. Senat nach den Vorgaben des EuGH gehalten, bei einer Abweichung vom Grundsatz der Gleichstellung durch Tarifvertrag uneingeschränkt zu überprüfen, ob das entsprechende Tarifwerk den Gesamtschutz der Zeitarbeitnehmer angemessen achte, und verpflichtet, die Vereinbarkeit der tariflichen Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz mit den sich aus Art. 5 Abs. 3 RiLi ergebenden Anforderungen sicherzustellen. Zwar verfügten die Sozialpartner bei der Aushandlung und dem Abschluss von Tarifverträgen nach Unionsrecht (Art. 28 GRC) über einen weiten Beurteilungsspielraum; die RL wolle nach ihrem Erwägungsgrund 19 die Autonomie der Sozialpartner auch nicht beeinträchtigen. Doch müsse – so der EuGH – das Recht auf Kollektivverhandlungen im Rahmen der Anwendung des Unionsrechts im Einklang mit diesem ausgeübt werden. Das auf das Arbeitsverhältnis der Parteien Anwendung findende, von iGZ und ver.di geschlossene Tarifwerk genüge – jedenfalls hinsichtlich der streitgegenständlichen wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingung „Arbeitsentgelt“ – den Anforderungen nach Art. 5 Abs. 3 RiLi. Ein von der Vergütung vergleichbarer Stammarbeitnehmer unabhängiges, im Regelfall niedrigeres tarifliches Arbeitsentgelt achte im Zusammenspiel mit den gesetzlichen Vorgaben zum Schutz der Zeitarbeitnehmer deren Gesamtschutz.

Den Sachvortrag der Klägerin zu ihren Gunsten als wahr unterstellt, habe sie im Hinblick auf ihr Arbeitsentgelt einen Nachteil erlitten, weil sie mit der tariflichen Vergütung ein geringeres Entgelt erhalten habe, als sie bekommen hätte, wenn sie von der Entleiherin unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt worden wäre. Eine solche Schlechterstellung lasse aber Art. 5 Abs. 3 RiLi ausdrücklich zu, sofern dies unter „Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern“ erfolge. Um diesen zu gewährleisten, sollten nach den Vorgaben des EuGH Ausgleichsvorteile eine Neutralisierung der Ungleichbehandlung bezwecken bzw. es ermöglichen, die Auswirkungen der Ungleichbehandlung auszugleichen. Die Sozialpartner dürften sich danach nicht darauf beschränken, eine oder mehrere der in Art. 3 Abs. 1 lit. f) RiLi definierten wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zu verschlechtern. Nicht verlangt habe der EuGH indes, dass auf die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen bezogene Ausgleichsvorteile in summa gleichsam wieder zur Gleichstellung führen müssten. Auch verlange der EuGH nicht zwingend, dass der zur Achtung des Gesamtschutzes erforderliche Ausgleich ausschließlich durch den Tarifvertrag selbst erfolgen müsse. An keiner Stelle seiner Entscheidung formuliere der EuGH, dass – so das BAG – der erforderliche Ausgleich einer Ungleichbehandlung nicht auch durch zwingende gesetzliche Regelungen erfolgen könne. Das sei konsequent, weil die RiLi mit deren Art. 5 Abs. 2 bis Abs. 4 dem Umstand Rechnung trage, dass die Regulierung von Zeitarbeit und der Schutz der Zeitarbeitnehmer innerhalb der EU höchst unterschiedlich ausgestaltet seien. In Art. 5 Abs. 3 RiLi berücksichtige sie Rechtsordnungen, in denen dies im Wesentlichen durch Kollektivverträge erfolge. Dem Anliegen der skandinavischen Länder, ihr Modell unter der RiLi beizubehalten, entspreche die Aufnahme der Gestaltungsmöglichkeit in Art. 5 Abs. 3 RiLi. Da diese unionsweit einheitlich gelte, würden hierdurch indessen gesetzliche Ausgleichsregelungen in einzelnen Mitgliedstaaten nicht ausgeschlossen. Ein derartiges Verständnis sei dem Urteil des EuGH nicht zu entnehmen.

Soweit der EuGH davon spreche, befristet beschäftigten Zeitarbeitnehmern müsse „ein erheblicher ausgleichender Vorteil“ gewährt werden, füge er selbst (relativierend) hinzu, dass dieser „im Wesentlichen mindestens das gleiche Niveau haben muss wie der, der (...)



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