Dr.
Alexander Bissels und Dr. Jonas Singraven
Ein
Sturm im Wasserglas! Oder: das BAG bestätigt die Wirksamkeit der
Tarifverträge der Zeitarbeit unter Berücksichtigung des zu
wahrenden Gesamtschutzes!
Das
BAG musste im sog. Gesamtschutzverfahren entscheiden, ob durch die
Tarifverträge der Zeitarbeit vom Gleichstellungsgrundsatz
abgewichen werden kann – und hat dies im Ergebnis unter
Berücksichtigung der Vorgaben des EuGH bejaht. Damit ist
grundsätzlich geklärt, dass die Tarifwerke BAP/DGB und iGZ/DGB
europarechtskonform sind und eine wirksame und taugliche Grundlage
darstellen, equal pay und equal treatment abzubedingen. Der
teilweise befürchtete und von der sog. Däubler- Kampagne
vorhergesagte "Donnerhall" aus Erfurt ist damit –
glücklicherweise – ausgeblieben.
I.
Hintergrund
Worum
ging es in dem Rechtsstreit überhaupt? Als gesetzlicher Grundfall
wird bekanntermaßen angeordnet, dass der an einen Kunden
überlassene Arbeitnehmer ab dem ersten Tag des Einsatzes einen
Anspruch auf die wesentlichen Arbeitsbedingungen (einschließlich
des Entgelts) hat, die einem vergleichbaren Stammbeschäftigten im
Betrieb des Kunden gewährt werden (sog. equal pay-/equal
treatment- Grundsatz gem. § 8 Abs. 1 S. 1 AÜG). Davon kann durch
einen Tarifvertrag oder eine Bezugnahme darauf abgewichen werden
(§ 8 Abs. 2 S. 1, 3 AÜG). In der Praxis stellt diese gesetzliche
Ausnahme bekanntermaßen die Regel dar; ca. 98% der
Personaldienstleister machen davon Gebrauch. Für den Ausschluss
des Gleichstellungsgrundsatzes hinsichtlich des Entgelts hat der
Gesetzgeber mit Wirkung zum 01.04.2017 die Möglichkeit einer
Abbedingung eingeschränkt: diese ist nur noch für die ersten
neun Monate einer Überlassung des Zeitarbeitnehmers an einen
Kunden möglich (§ 8 Abs. 4 S. 1 AÜG), es sei denn, es findet
ein sog. Branchenzuschlagstarifvertrag auf das Arbeitsverhältnis
des überlassenen Zeitarbeitnehmers Anwendung, der die
Anforderungen i.S.v. § 8 Abs. 4 S. 2 AÜG erfüllt.
Dass
die gesetzlichen Bestimmungen des AÜG und die darauf fußenden
Tarifverträge, insbesondere der Zeitarbeit (BAP/DGB und iGZ/DGB),
mit Europarecht in Einklang stehen, wurde in der Vergangenheit in
Abrede gestellt (vgl. Däubler, Überlegungen zu einer Klage auf
Entgeltnachzahlung für Leiharbeitnehmer vom 28.05.2017). Sollte
dies tatsächlich der Fall sein, wären – analog zur CGZP (vgl.
BAG v. 13.03.2013 – 5 AZR 954/11, DB 2013, 1361; dazu Bissels,
ArbRB 2013, 242 ff.) – zumindest Szenarien nicht ausgeschlossen,
die auf eine (mehr oder weniger flächendeckende) Gleichstellung
von Zeitarbeitnehmern, insbesondere hinsichtlich des Entgelts (equal
pay), hinausliefen.
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass sich auf eine
Vorlage des BAG (Beschl. v. 16.12.2020 – 5 AZR 143/19 (A); vgl.
dazu: Bissels/Falter, DB 2021, 2223) der EuGH inzwischen zu den
europarechtlichen Anforderungen aus der Richtlinie 2008/104/EG des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.11.2008 über
Leiharbeit (nachfolgend kurz auch: „RL“ genannt) geäußert
hat, die beachtet werden müssen, wenn und soweit der
Gleichstellungsgrundsatz durch einen Tarifvertrag (wirksam)
abbedungen werden soll (Urt. v. 15.12.2022 – C-311/21).
Dabei
stellte der EuGH vor allem fest, dass der Ausschluss des
Gleichstellungsgrundsatzes, insbesondere hinsichtlich des
Entgelts, durch einen Tarifvertrag für den Zeitarbeitnehmer einen
Nachteil darstellt, der durch einen geeigneten Vorteil an einer
anderen Stelle ausgeglichen werden muss, um damit den von der RL
verlangten Gesamtschutz hinreichend umzusetzen. Der Ausgleich muss
sich dabei auf die in Art. 3 Abs. 1 lit. f) RL definierten
wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, nämlich die
Dauer der Arbeitszeit, Überstunden, Pausen, Ruhezeiten,
Nachtarbeit, Urlaub, arbeitsfreie Tage und/oder das
Arbeitsentgelt, beziehen.
Ein
argumentativer „Anker“ für einen solchen Vorteil, den der
EuGH in diesem Zusammenhang aufzeigt und der sich in den
Schlussanträgen des Generalanwalts nicht wiederfindet, ist, dass
das von dem Personaldienstleister gezahlte Entgelt in der Zeit
zwischen den Überlassungen (angelegt in Art. 5 Abs. 2 RL) – sei
es aufgrund eines unbefristeten oder befristeten Arbeitsvertrags
mit dem Zeitarbeitnehmer – bei der Beurteilung dieses
Gesamtschutzes nach Art. 5 Abs. 3 RL als Ausgleich
berücksichtigungsfähig ist. Die Zahlung der Vergütung in
einsatzfreien Zeiten sehen § 11 Abs. 4 S. 2 AÜG und die
Tarifwerke BAP/DGB und iGZ/DGB vor. Ob dieser Umstand jedoch auch
hinreichend ist, um tatsächlich eine Abweichung vom
Gleichstellungsgrundsatz zu begründen bzw. zu legitimieren, stand
damit noch nicht fest.
II.
Zusammenfassung des Urteils des BAG vom 31.05.2023
Nach
der Entscheidung des EuGH vom 15.12.2022 war vielmehr wieder das
BAG als vorlegendes Gericht am Zug, das am 31.05.2023 das Urteil
aus Luxemburg zum Gesamtschutz in das nationale Recht
"übersetzte" und auf den konkreten Fall anwendete.
Diesem lag dabei folgender Sachverhalt zugrunde:
Der
klagende Zeitarbeitnehmer X war von Januar bis April 2017 bei dem
beklagten Personaldienstleister Y im Rahmen eines befristeten
Arbeitsvertrags beschäftigt. X wurde dabei einem Unternehmen des
Einzelhandels als Kommissionierer überlassen. Nach einem
(insoweit einschlägigen) Tarifvertrag für Arbeitnehmer im
Einzelhandel in Bayern war vergleichbaren, unmittelbar von dem
Einsatzunternehmen angestellten Arbeitnehmern ein Stundenlohn
i.H.v. 13,64 EUR brutto zu zahlen. Das für das Arbeitsverhältnis
zwischen X und Y geltende Tarifwerk iGZ/DGB wich jedoch von dem
gesetzlich geregelten Grundsatz der Gleichstellung, u.a. in Bezug
auf das Arbeitsentgelt, ab. Daher erhielt X (mitgliedschaftlich in
ver.di organisiert) lediglich ein (tarifliches) Bruttoentgelt
i.H.v. 9,23 EUR pro Stunde.
X
erhob bei dem ArbG Würzburg Klage auf Zahlung von 1.296,72 EUR
als Ersatz der Differenz zwischen der ihm gezahlten und der
vergleichbaren, unmittelbar vom Einsatzunternehmen eingestellten
Mitarbeitern gewährten Vergütung und machte geltend, dass die
einschlägigen Bestimmungen des AÜG und des Tarifvertrags der
Zeitarbeit (hier: iGZ/DBG) gegen Art. 5 RL verstießen. Die
Beklagte meint, aufgrund der beiderseitigen Tarifgebundenheit von
Personaldienstleister und Zeitarbeitnehmer schulde sie nur die
für den überlassenen Mitarbeiter vorgesehene tarifliche
Vergütung.
Nach
der erstinstanzlichen Abweisung der Klage durch das ArbG Würzburg
(Urt. v. 08.05.2018 – 2 Ca 1248/17) ging der unterlegene X in
die Berufung beim LAG Nürnberg, das diese zurückwies (Urt. v.
07.03.2019 – 5 Sa 230/18). Nach Vorlage an den EuGH und dessen
Urteil vom 15.12.2022 hat das BAG über die von X eingelegte
Revision am 31.05.2023 entschieden und diese – aus Sicht der
Branche hoch erfreulich – endgültig zurückgewiesen (Az. 5 AZR
143/19).
Der
5. Senat führt in der inzwischen vorliegenden Pressemitteilung zu
der Entscheidung vom 31.05.2023 wie folgt aus:
Von
dem Grundsatz, dass Zeitarbeitnehmer für die Dauer einer
Überlassung Anspruch auf das gleiche Arbeitsentgelt wie
vergleichbare Stammarbeitnehmer des Kunden haben („equal pay“),
könne nach § 8 Abs. 2 AÜG ein Tarifvertrag „nach unten“
abweichen – mit der Folge, dass das Zeitarbeitsunternehmen dem
überlassenen Mitarbeiter nur die niedrigere tarifliche Vergütung
zahlen müsse. Ein entsprechendes Tarifwerk habe der iGZ mit
ver.di geschlossen. Dieses genüge auch den unionsrechtlichen
Vorgaben.
Das
BAG begründet dies wie folgt: aufgrund des wegen der
beiderseitigen, übereinstimmenden Tarifgebundenheit von
Zeitarbeitsunternehmen und -arbeitnehmer auf das
Arbeitsverhältnis Anwendung findenden Tarifwerks von iGZ und
ver.di sei die Beklagte nach § 8 Abs. 2 S. 2 AÜG und § 10 Abs.
4 S. 1 AÜG a.F. nur verpflichtet gewesen, die tarifliche
Vergütung zu zahlen. Dieses Tarifwerk entspreche – jedenfalls
im Zusammenspiel mit den gesetzlichen Schutzvorschriften für
Zeitarbeitnehmer – den Anforderungen des Art. 5 Abs. 3 RL.
Treffe
der Sachvortrag der Klägerin zum Entgelt vergleichbarer
Stammarbeitnehmer bei dem Kunden zu, habe diese zwar einen
Nachteil erlitten, weil sie eine geringere Vergütung erhalten
habe, als sie erhalten hätte, wenn sie unmittelbar für den
gleichen Arbeitsplatz von dem entleihenden Unternehmen eingestellt
worden wäre. Eine solche Schlechterstellung lasse aber Art. 5
Abs. 3 RL ausdrücklich zu, sofern dies unter „Achtung des
Gesamtschutzes der Leiharbeitnehmer“ erfolge. Dazu müssten nach
den Vorgaben des EuGH Ausgleichsvorteile eine Neutralisierung der
Ungleichbehandlung ermöglichen. Ein möglicher Ausgleichsvorteil
könne nach der Rechtsprechung des EuGH sowohl bei unbefristeten
als auch befristeten Zeitarbeitsverhältnissen die Fortzahlung des
Entgelts in überlassungsfreien Zeiten sein. Anders als in einigen
anderen europäischen (...)
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