Heft 04/2023

Heft April 2023

"Blickpunkt Dienstleistung" Heft 04/23 - Inhalt

  • Harter Kampf um Arbeitnehmer

  • Dr. Alexander Bissels und Dr. Jonas Singraven Bestimmung der tariflichen Belastungsgrenze bei Mehrarbeitszuschlägen unter Berücksichtigung von Urlaubsstunden

  • Befragung: 86 Prozent der deutschen Unternehmen können Stellen nicht besetzen

  • Jeder dritte Stellenwechsel in Deutschland erfolgt über Personalvermittler

  • Intensiver Austausch zu den Themen Personalbindung und Qualifizierung bei der Fachkonferenz für Personaldienstleister "ARBEIT & PERSONAL" in Leipzig - "Entscheidend für die Bindung von Beschäftigten an das Unternehmen sind die Arbeitsinhalte"

  • 39 Prozent der Betriebe kommen ihrer Pflicht zur Beschäftigung schwerbehinderter Menschen nach

  • Franz & Wach expandiert

  • Homeoffice im Handwerk? Wie Flexibilität in Nicht-Büro-Jobs aussieht

  • Konjunktur und Arbeitskräftemangel belasten Temporärgeschäft der Personaldienstleister

  • Konjunkturindex von Lünendonk: Zeitarbeitsunternehmen wachsen im ersten Quartal 2023 um 9,2 Prozent

  • Bénédicte Autem übernimmt die Geschäftsführung von Bankpower

  • IAB-Frühjahrsprognose: Erwerbstätigkeit steigt 2023 auf Rekordhoch

  • Studie zum Fachkräftemangel: Deutsche Unternehmen lassen viele Chancen liegen

  • Sind eigene Mitarbeiter die besseren Headhunter?

Leseprobe

Dr. Alexander Bissels und Dr. Jonas Singraven

Bestimmung der tariflichen Belastungsgrenze bei Mehrarbeitszuschlägen unter Berücksichtigung von Urlaubsstunden

Wird eine tarifliche Belastungsgrenze für eine Zuschlagspflicht bei Mehrarbeit nur unter Berücksichtigung der aktiv geleisteten Stunden festgelegt oder sind in diesem Zusammenhang auch inaktive Zeiten bei gleichzeitiger Fortzahlung der Vergütung während des Urlaubs zugunsten des Arbeitnehmers zu beachten? Mit dieser Frage musste sich das BAG im Anwendungsbereich des MTV iGZ/DGB auf Grundlage der Vorgaben des EuGH befassen (Urt. v. 13.01.2022 – C-514/20), dem der 10. Senat den Rechtsstreit vorab vorgelegt hat (Urt. v. 16.11.2022 – 10 AZR 210/19). 

I. Zusammenfassung der Entscheidung

Der klagende Zeitarbeitnehmer war bei dem Personaldienstleister in Vollzeit mit einem Stundenlohn i.H.v. 12,18 EUR brutto beschäftigt. Für das Arbeitsverhältnis galt aufgrund einer beiderseitigen Tarifbindung der MTV iGZ/DGB

§ 4 MTV iGZ/DGB sieht wörtlich folgende Regelung vor:

4.1.1. Mehrarbeit ist die über die regelmäßige monatliche Arbeitszeit hinausgehende Arbeitszeit.

4.1.2. Mehrarbeitszuschläge werden für Zeiten gezahlt, die in Monaten mit

  - 20 Arbeitstagen über 160 geleistete Stunden 

  - 21 Arbeitstagen über 168 geleistete Stunden 

  - 22 Arbeitstagen über 176 geleistete Stunden 

  - 23 Arbeitstagen über 184 geleistete Stunden

hinausgehen. Der Mehrarbeitszuschlag beträgt 25 Prozent.

Im Monat August 2017 (mit 23 Arbeitstagen) arbeitete der Kläger 121,75 Stunden und nahm zehn Tage Erholungsurlaub, für die die Beklagte 84,7 Stunden abrechnete und vergütete.

Die Revision des Klägers gegen die klageabweisenden Urteile der Instanzgerichte hatte überwiegend Erfolg. Dieser hat nach den höchstrichterlichen Feststellungen einen Anspruch auf die Zahlung von tariflichen Mehrarbeitszuschlägen für den Monat August 2017.

Nach § 4.1.2. MTV iGZ/DGB seien – so das BAG – Mehrarbeitszuschläge für Zeiten zu zahlen, die über eine bestimmte Anzahl geleisteter Stunden hinausgingen. Die tarifvertragliche Regelung sei so zu verstehen, dass nicht nur die tatsächlich geleisteten Stunden bei der Berechnung von Mehrarbeitszuschlägen, sondern auch zu vergütende Urlaubsstunden zu berücksichtigen seien. Dies ergebe sich aus einer Auslegung der Tarifnorm in Übereinstimmung mit § 1 BUrlG in seinem unionsrechtskonformen Verständnis.

Ausgehend vom Wortlaut von § 4.1.2. MTV iGZ/DGB seien unter „geleistete Stunden“ nach dem allgemeinen Sprachgebrauch Stunden zu verstehen, in denen eine tatsächliche Arbeitsleistung erbracht werde. Urlaubszeiten, in denen nicht gearbeitet werde, seien dagegen nicht vom Wortsinn erfasst. Allerdings sei der Wortlaut nicht eindeutig, insoweit nicht abschließend zu verstehen und der Begriff „geleistete Stunden“ von den Tarifvertragsparteien nicht selbst definiert. Unter diesen könnten vielmehr ebenfalls Stunden fallen, die ein Arbeitnehmer wegen Urlaubs vergütet erhalte. Der tatsächlichen Erbringung der Arbeitsleistung könne es gleichstehen, wenn die Leistung von Stunden nur deshalb nicht erfolge, weil der Arbeitnehmer unter Fortzahlung seines Entgelts wegen Urlaubs von der Erbringung der Arbeitsleistung freigestellt werde. Zwar deuteten Sinn und Zweck der tariflichen Bestimmung und deren Gesamtzusammenhang darauf hin, dass nur tatsächlich geleistete Stunden bei der Berechnung der Mehrarbeitszuschläge berücksichtigt werden sollten. Ausgeschlossen sei ein anderes Verständnis aber auch danach nicht.

Nur eine Auslegung der Tarifnorm, nach der genommene Urlaubsstunden als „geleistete Stunden“ nach § 4.1.2. MTV iGZ/DGB mitzählten, sei nach der Ansicht des BAG im Hinblick auf § 1 BUrlG gesetzeskonform. Bestimmte Anreize, auf den gesetzlichen Mindesturlaub zu verzichten, könnten gegen § 1 BUrlG verstoßen. Arbeitnehmer dürften nicht aus wirtschaftlichen Erwägungen davon abgehalten werden, ihren Anspruch auf Erholungsurlaub geltend zu machen. Ein mit § 1 BUrlG nicht zu vereinbarender Anreiz, auf Urlaub zu verzichten, könne nach nationalem Recht in Tarifverträgen nicht wirksam vereinbart werden. Die Öffnungsklausel gem. § 13 Abs. 1 S. 1 BUrlG, nach der in Tarifverträgen grundsätzlich von den Vorschriften des BUrlG abgewichen werden könne, gelte nicht für § 1 BUrlG.

Diese Bestimmung sei ihrerseits unionsrechtskonform nach Art. 31 Abs. 2 GRC, Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG (nachfolgend: RiLi) auszulegen. Der EuGH habe insoweit festgestellt, dass Art. 7 RiLi im Licht von Art. 31 Abs. 2 GRC so zu interpretieren sei, dass er einer Regelung in einem Tarifvertrag entgegenstehe, nach der für die Berechnung, ob die Schwelle der zu einem Mehrarbeitszuschlag berechtigenden Arbeitszeit erreicht sei, die Stunden, die dem vom Arbeitnehmer in Anspruch genommenen bezahlten Jahresurlaub entsprächen, nicht als geleistete Arbeitsstunden berücksichtigt würden. Das Recht auf bezahlten Jahresurlaub sei als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der EU – verbürgt in Art. 31 Abs. 2 GRC – anzusehen, von dem nicht abgewichen werden dürfe. Die Schaffung eines Anreizes, auf den Erholungsurlaub zu verzichten, sei mit den Zielen von Art. 7 RiLi unvereinbar. Das gelte für jede Praxis eines Arbeitgebers, die den Arbeitnehmer davon abhalten könne, den Jahresurlaub zu nehmen. Der in § 4.1.2. MTV iGZ/DGB angelegte Mechanismus zur Anrechnung von Arbeitsstunden, die für das Überschreiten einer bestimmten Schwelle, ab der Mehrarbeitszuschläge geschuldet würden, zu berücksichtigen seien, sei allerdings geeignet, den Arbeitnehmer davon abzuhalten, Urlaub zu nehmen. In dem Monat, in dem er Urlaub nehme, könne ein Mehrarbeitszuschlag trotz geleisteter Überstunden deshalb entfallen, weil die Urlaubsstunden bei der Berechnung des Schwellenwerts nicht beachtet würden. Ein solcher Mechanismus sei nicht mit dem in Art. 7 Abs. 1 RiLi vorgesehenen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub vereinbar.

Nach diesen Vorgaben sei § 4.1.2. MTV iGZ/DGB gesetzeskonform in Übereinstimmung mit § 1 BUrlG in seinem unionsrechtskonformen Verständnis dahingehend auszulegen, dass genommene und zu vergütende Urlaubsstunden bei der Berechnung der Mehrarbeitszuschläge zu beachten seien. In diesem Verständnis weiche § 4.1.2. MTV iGZ/DGB nicht von den für den gesetzlichen Mindesturlaub gegebenen Vorgaben in § 1 BUrlG in seiner richtlinienkonformen Auslegung ab. Eine andere Auslegung würde dazu führen, dass ein Mechanismus gegeben wäre, den Arbeitnehmer davon abzuhalten, seinen Jahresurlaub zu nehmen, und somit ein unzulässiger finanzieller Anreiz bestünde, auf den (gesetzlichen) Mindesturlaub zu verzichten. Dies wäre immer dann der Fall, wenn ein Arbeitnehmer während eines Kalendermonats Mehrarbeit im Tarifsinn leiste und im selben Monat Urlaub nehme. Mehrarbeitszuschläge könnten sich verringern oder vollständig entfallen, weil der maßgebende Schwellenwert für Mehrarbeitszuschläge in geringerem Umfang oder gar nicht mehr überschritten würde. In Anspruch genommener Urlaub könnte in Bezug auf tarifvertragliche Mehrarbeitszuschläge mit einem finanziellen Nachteil einhergehen, wenn mehr als 40 Stunden pro Woche gearbeitet worden seien und bei Weiterarbeit statt Urlaubs die jeweils maßgebliche Berechnungsschwelle überschritten würde. Im Fall des Klägers würde ein solches Verständnis von § 4.1.2. MTV iGZ/DGB dazu führen, dass Mehrarbeitszuschläge für August 2017 nicht zu zahlen gewesen wären. Ohne Berücksichtigung der bezahlten Urlaubsstunden hätte der Kläger die maßgebliche Schwelle nämlich nicht überschritten.

Im Monat August 2017 habe der Kläger 121,75 Stunden Arbeitsleistung und 84,7 Stunden Urlaub vergütet erhalten (insgesamt: 206,45 Stunden). Der Monat habe 23 Arbeitstage, so dass Mehrarbeitszuschläge für die über 184 Stunden hinausgehenden Zeiten i.H.v. 68,36 EUR brutto zu zahlen seien (22,45 Stunden x 12,18 EUR x 25 %). Soweit der Kläger weitere 3,96 Euro brutto geltend mache, fehle es hingegen an einer Anspruchsgrundlage.

II. Bewertung

Das Urteil des BAG ist nach der Entscheidung des EuGH wenig überraschend; der Ausgang des Verfahrens in dem oben beschriebenen Sinne war zu erwarten. Das BAG setzt die Vorgaben des EuGH konsequent um, wenngleich es schon einiger juristischer "Klimmzüge" bedurfte, um den u.E. doch sehr eindeutigen Wortlaut von § 4.1.2. MTV iGZ/DGB ("geleistete Stunden") im Rahmen der Auslegung – entgegen der Vorinstanzen (vgl. ArbG Dortmund v. 14.02.2018 – 10 Ca 4180/17; LAG Hamm v. 14.12.2018 – 13 Sa 589/18; dazu: Bissels/Falter, jurisPR-ArbR 33/2019 Anm. 3) – so zu verstehen, dass unter die Regelung auch bezahlte Urlaubszeiten zu fassen sein sollen (ebenfalls kritisch: Fuhlrott, GWR 2023, 76; Bauer, ArbR 2022,

(...)



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