Dr.
Alexander Bissels und Dr. Jonas Singraven
Aktuelles
vom EuGH: Die Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz und
erforderliche Ausgleichsvorteile
Das
Recht der Arbeitnehmerüberlassung, kodifiziert im AÜG, ist
komplex und hoch reguliert. Zu der gesetzlich vorgesehenen
Möglichkeit, vom Gleichstellungsgrundsatz durch Tarifverträge
abzuweichen, hat sich der EuGH am 15.12.2022 auf eine Vorlage des
BAG befassen müssen und Vorgaben gemacht, die von den deutschen
Arbeitsgerichten umzusetzen sind. Der Beitrag beleuchtet die
aktuelle Entscheidung und deren praktische Auswirkungen.
I.
Einleitung
Das
AÜG hat durch das „Gesetz zur Änderung des
Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und anderer Gesetze“ vom
21.02.2017 (BGBl. I 2017, 258) mit Wirkung zum 01.04.2017
erhebliche und für die Praxis bedeutsame Änderungen erfahren.
Der Gesetzgeber führte (wieder) eine Überlassungshöchstdauer
von grundsätzlich 18 Monaten ein, von der durch Tarifverträge
der Einsatzbranche abgewichen werden kann (§ 1 Abs. 1 S. 4, Abs.
1b AÜG). Darüber hinaus gilt ab dem vollendeten neunten
Einsatzmonat bei einem Entleiher grundsätzlich zwingend equal pay
(§ 8 Abs. 4 AÜG). Der sog. Fallschirmlösung begegnet der
Gesetzgeber mit einer Offenlegungs- und Konkretisierungspflicht
(§ 1 Abs. 1 S. 5, 6 AÜG). Zudem kann der Zeitarbeitnehmer die
Fiktion eines Arbeitsverhältnisses zum Entleiher, insbesondere
bei einer illegalen Arbeitnehmerüberlassung, durch eine
Festhaltenserklärung rückgängig machen (§ 9 Abs. 1, § 10 Abs.
1 AÜG). Ziel der Reform des AÜG war es, "die Leiharbeit
auf ihre Kernfunktion hin zu orientieren und den Missbrauch von
Werkvertragsgestaltungen zu verhindern".
Mit Blick auf eine Vorlage des BAG (Beschl. v. 16.12.2020 – 5
AZR 143/19 (A); vgl. dazu: Bissels/Falter, DB 2021, 2223) hat sich
inzwischen der EuGH zu den europarechtlichen Anforderungen aus der
Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates
vom 19.11.2008 über Leiharbeit (sog. Leiharbeitsrichtlinie,
nachfolgend kurz auch: „RL“ genannt) geäußert, die zu
beachten sind, wenn und soweit der Gleichstellungsgrundsatz durch
einen Tarifvertrag abbedungen werden soll. Das Urteil des EuGH vom
15.12.2022 (Az. C- 311/21) kann für die bisherige Praxis, durch
die Tarifwerke der Zeitarbeit (BAP/DGB und iGZ/DGB) von der
gesetzlichen Gleichstellungspflicht abzuweichen, erhebliche
Auswirkungen haben.
II.
Allgemeines
Als
gesetzlicher Grundfall wird angeordnet, dass der an einen
Entleiher überlassene Arbeitnehmer ab dem ersten Tag des
Einsatzes einen Anspruch auf die Gewährung der wesentlichen
Arbeitsbedingungen (einschließlich des Entgelts) hat, die einem
vergleichbaren Stammbeschäftigten des Entleihers im Betrieb
gewährt werden (§ 8 Abs. 1 S. 1 AÜG). Davon kann durch
Tarifvertrag oder eine Bezugnahme darauf abgewichen werden (§ 8
Abs. 2 S. 1, 3 AÜG). In der Praxis stellt diese Ausnahme die
Regel dar. Für die Abbedingung vom Gleichstellungsgrundsatz
hinsichtlich des Entgelts hat der Gesetzgeber mit Wirkung zum
01.04.2017 die Gestaltungsmöglichkeiten eingeschränkt: diese ist
nur noch für die ersten neun Monate einer Überlassung des
Zeitarbeitnehmers an einen Entleiher möglich (§ 8 Abs. 4 S. 1
AÜG), es sei denn, es findet ein sog.
Branchenzuschlagstarifvertrag Anwendung, der die Anforderungen
i.S.v. § 8 Abs. 4 S. 2 AÜG erfüllt.
III.
Vorlage an den EuGH
Dass
die gesetzlichen Bestimmungen und die darauf fußenden
Tarifverträge, insbesondere die Tarifwerke der Zeitarbeit
(BAP/DGB und iGZ/DGB), mit den europarechtlichen Vorgaben in
Einklang stehen, wurde und wird in Abrede gestellt (vgl. Däubler,
Überlegungen zu einer Klage auf Entgeltnachzahlung für
Leiharbeitnehmer vom 28.05.2017, abrufbar unter: https://www.labournet.de/
wp-content/ uploads/2018/04/daeubler 280517.pdf). Sollte dies der
Fall sein, wären – analog zur CGZP – zumindest Szenarien
denkbar, die auf eine (mehr oder weniger flächendeckende)
Gleichstellung von Zeitarbeitnehmern (u.a. hinsichtlich des
Entgelts und darauf noch abzuführender
Sozialversicherungsbeiträge) hinauslaufen würden.
Das
BAG (Beschl. v. 16.12.2020 – 5 AZR 143/19 (A), vgl. hierzu
Bissels/Falter, DB 2021, 2223) hat in diesem Zusammenhang den EuGH
(Az. C-311/21) angerufen. Der Vorlage lag dabei folgender
Sachverhalt zugrunde:
Der
klagende Zeitarbeitnehmer X war im Zeitraum von Januar bis April
2017 bei dem beklagten Verleiher Y im Rahmen eines befristeten
Arbeitsvertrages beschäftigt. X wurde dabei einem Unternehmen des
Einzelhandels als Kommissionierer überlassen.
Nach
einem Tarifvertrag für Arbeitnehmer im Einzelhandel in Bayern war
vergleichbaren, unmittelbar von dem Einsatzunternehmen
angestellten Arbeitnehmern ein Stundenlohn in Höhe von 13,64 EUR
brutto zu zahlen. Das für das Arbeitsverhältnis zwischen X und Y
geltende Tarifwerk iGZ/DGB wich jedoch von dem gesetzlich
geregelten Grundsatz der Gleichstellung, insbesondere in Bezug auf
das Arbeitsentgelt, ab. Infolgedessen erhielt X (mitgliedschaftlich
in ver.di organisiert) ein Bruttoentgelt in Höhe von 9,23 EUR pro
Stunde.
X
erhob bei dem ArbG Würzburg Klage auf Zahlung von 1.296,72 EUR
als Ersatz der Differenz zwischen der ihm gezahlten und der
vergleichbaren, unmittelbar vom Einsatzunternehmen eingestellten
Mitarbeitern gewährten Vergütung und machte geltend, dass die
einschlägigen Bestimmungen des AÜG und des Tarifvertrags der
Zeitarbeit (hier: iGZ/DBG) gegen Art. 5 RL verstießen. Nach der
Abweisung der Klage ging X in die Berufung beim LAG Nürnberg, das
diese zurückwies. Gegen dieses Urteil legte X daraufhin Revision
zum BAG ein, das den Streit inhaltlich nicht entschied, sondern
beschloss, das Verfahren auszusetzen und dem EuGH einige Fragen
zur Vorabentscheidung vorzulegen. Dabei spielen für das BAG u.a.
zwei Aspekte eine wesentliche Rolle, nämlich in welchem
Verhältnis der Grundsatz der Gleichstellung in Art. 5 Abs. 1 RL
zum Begriff des nach Art. 5 Abs. 3 RL durch Tarifverträge zu
achtenden „Gesamtschutzes von Zeitarbeitnehmern“ steht sowie
inwieweit solche Tarifverträge gerichtlich daraufhin
überprüfbar sind, ob sie diesen Gesamtschutz achten.
IV.
Entscheidung des EuGH
Am
15.12.2022 hat der EuGH (Az. C-311/21) in der Sache entschieden;
dabei ist das Gericht im Wesentlichen den Schlussanträgen des
Generalanwalts vom 14.07.2022 (abrufbar unter:https://curia.europa.
eu/juris/document/document.jsf? text=&docid=262969&pageIndex=0
&doclang=de&mode=req&dir=&occ =first&part=1&cid=19422
dazu ausführlich: Bissels/Singraven, DB 2022, 2089 ff.) gefolgt.
Aus dem Urteil ergibt sich zusammengefasst, dass:
-
durch Tarifverträge vom Gleichstellungsgrundsatz (Art. 5 Abs. 1
RL) abgewichen werden kann; diese müssen aber den Gesamtschutz
der Zeitarbeitnehmer nach Art. 5 Abs. 3 RL wahren. Dieses
Kriterium stellt folglich nach Ansicht des EuGH einen
verbindlichen Rechtsgrund- und nicht nur einen unverbindlichen
Programmsatz dar (vgl. Franzen, EuZA 2022, 7 f. m.w.N.).
-
auch bei einem mit einem Zeitarbeitnehmer nur befristet
abgeschlossenen Arbeitsvertrag durch einen Tarifvertrag vom
Grundsatz der Gleichstellung abgewichen werden kann; die Pflicht
zur Achtung des Gesamtschutzes ist nicht mit dem Bestehen eines
unbefristeten Arbeitsvertrages verknüpft, sondern gilt
gleichermaßen bei befristeten Arbeitsverhältnissen. Ein
unbefristeter Arbeitsvertrag ist folglich nicht erforderlich, so
dass auch bei befristet beschäftigten Zeitarbeitnehmern eine
Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz auf Grundlage von Art. 5
Abs. 3 RL durch Tarifvertrag – freilich unter Achtung des
Gesamtschutzes – rechtlich möglich und zulässig ist (Franzen,
EuZA 2022, 12 m.w.N; a.A. Zimmer, NZA 2013, 293 f.).
-
die Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz, insbesondere
hinsichtlich des Entgelts, durch einen Tarifvertrag für den
Zeitnehmer einen Nachteil darstellt, der durch einen geeigneten
Vorteil an einer anderen Stelle kompensiert werden muss, um damit
den von der RL verlangten Gesamtschutz hinreichend umzusetzen. Der
Ausgleich muss sich dabei auf die in Art. 3 Abs. 1 lit. f RL
definierten wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen,
nämlich die Dauer der Arbeitszeit, Überstunden, Pausen,
Ruhezeiten, Nachtarbeit, Urlaub, arbeitsfreie Tage und das
Arbeitsentgelt, beziehen. Bereits diesen Umstand verkennt
Däubler, wenn dieser in einer ersten Besprechung der Entscheidung
des EuGH auf die verkürzten Kündigungsfristen in den
Tarifverträgen der Zeitarbeit hinweist (abrufbar unter: https://www.
labournet.de/politik/alltag/entlohnung/
die-anstalt-prof-wolfgangdaeubler- und-labournet-germanygesucht-
leiharbeiterinnen-fuereine- klage-vor-dem-eugh-fuer-glei
chen-lohn-und-gleiche-bedingungen- auch-in-deutschland/). Dieser
Umstand ist unerheblich, betrifft diese Regelung nicht die von der
RL genannten wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen;
diese erfassen gerade nicht die Beendigung von
Arbeitsverhältnissen.
(...)
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