Heft 02/2023

Heft Februar 2023

"Blickpunkt Dienstleistung" Heft 02/23 - Inhalt

  • Aktuelle Konjunkturumfrage: Absturz der deutschen Wirtschaft abgewendet

  • Dr. Alexander Bissels und Dr. Jonas Singraven Aktuelles vom EuGH: Die Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz und erforderliche Ausgleichsvorteile

  • 16. ES-Unternehmerforum für Personaldienstleister Mit Erfahrung in die Zukunft: Beim 16. ES-Unternehmerforum in Fulda stehen Trends und Herausforderungen für die Zeitarbeit im Fokus

  • Mitarbeiterbindung: Emotionale Verbundenheit ist entscheidend

  • Die belgische Unternehmensgruppe House of HR wird zu einem der größten HR-Anbieter des deutschen Gesundheitssektors

  • Arbeitsrecht: Kann ich Urlaubstage kaufen und verkaufen?

  • Vorteile von digitaler Personalsuche

  • Hays Fachkräfte-Index Q4/2022: Finanz-Experten erleben Rekordnachfrage

  • Swyter: "Eine drastische Beschränkung der Zeitarbeit in der Pflege verschärft den bundesweiten Pflegenotstand"

  • Urlaubsabgeltung – Verjährung

Leseprobe

Dr. Alexander Bissels und Dr. Jonas Singraven

Aktuelles vom EuGH: Die Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz und erforderliche Ausgleichsvorteile

Das Recht der Arbeitnehmerüberlassung, kodifiziert im AÜG, ist komplex und hoch reguliert. Zu der gesetzlich vorgesehenen Möglichkeit, vom Gleichstellungsgrundsatz durch Tarifverträge abzuweichen, hat sich der EuGH am 15.12.2022 auf eine Vorlage des BAG befassen müssen und Vorgaben gemacht, die von den deutschen Arbeitsgerichten umzusetzen sind. Der Beitrag beleuchtet die aktuelle Entscheidung und deren praktische Auswirkungen. 

I. Einleitung

Das AÜG hat durch das „Gesetz zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und anderer Gesetze“ vom 21.02.2017 (BGBl. I 2017, 258) mit Wirkung zum 01.04.2017 erhebliche und für die Praxis bedeutsame Änderungen erfahren. Der Gesetzgeber führte (wieder) eine Überlassungshöchstdauer von grundsätzlich 18 Monaten ein, von der durch Tarifverträge der Einsatzbranche abgewichen werden kann (§ 1 Abs. 1 S. 4, Abs. 1b AÜG). Darüber hinaus gilt ab dem vollendeten neunten Einsatzmonat bei einem Entleiher grundsätzlich zwingend equal pay (§ 8 Abs. 4 AÜG). Der sog. Fallschirmlösung begegnet der Gesetzgeber mit einer Offenlegungs- und Konkretisierungspflicht (§ 1 Abs. 1 S. 5, 6 AÜG). Zudem kann der Zeitarbeitnehmer die Fiktion eines Arbeitsverhältnisses zum Entleiher, insbesondere bei einer illegalen Arbeitnehmerüberlassung, durch eine Festhaltenserklärung rückgängig machen (§ 9 Abs. 1, § 10 Abs. 1 AÜG). Ziel der Reform des AÜG war es, "die Leiharbeit auf ihre Kernfunktion hin zu orientieren und den Missbrauch von Werkvertragsgestaltungen zu verhindern".

Mit Blick auf eine Vorlage des BAG (Beschl. v. 16.12.2020 – 5 AZR 143/19 (A); vgl. dazu: Bissels/Falter, DB 2021, 2223) hat sich inzwischen der EuGH zu den europarechtlichen Anforderungen aus der Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.11.2008 über Leiharbeit (sog. Leiharbeitsrichtlinie, nachfolgend kurz auch: „RL“ genannt) geäußert, die zu beachten sind, wenn und soweit der Gleichstellungsgrundsatz durch einen Tarifvertrag abbedungen werden soll. Das Urteil des EuGH vom 15.12.2022 (Az. C- 311/21) kann für die bisherige Praxis, durch die Tarifwerke der Zeitarbeit (BAP/DGB und iGZ/DGB) von der gesetzlichen Gleichstellungspflicht abzuweichen, erhebliche Auswirkungen haben.

II. Allgemeines

Als gesetzlicher Grundfall wird angeordnet, dass der an einen Entleiher überlassene Arbeitnehmer ab dem ersten Tag des Einsatzes einen Anspruch auf die Gewährung der wesentlichen Arbeitsbedingungen (einschließlich des Entgelts) hat, die einem vergleichbaren Stammbeschäftigten des Entleihers im Betrieb gewährt werden (§ 8 Abs. 1 S. 1 AÜG). Davon kann durch Tarifvertrag oder eine Bezugnahme darauf abgewichen werden (§ 8 Abs. 2 S. 1, 3 AÜG). In der Praxis stellt diese Ausnahme die Regel dar. Für die Abbedingung vom Gleichstellungsgrundsatz hinsichtlich des Entgelts hat der Gesetzgeber mit Wirkung zum 01.04.2017 die Gestaltungsmöglichkeiten eingeschränkt: diese ist nur noch für die ersten neun Monate einer Überlassung des Zeitarbeitnehmers an einen Entleiher möglich (§ 8 Abs. 4 S. 1 AÜG), es sei denn, es findet ein sog. Branchenzuschlagstarifvertrag Anwendung, der die Anforderungen i.S.v. § 8 Abs. 4 S. 2 AÜG erfüllt.

III. Vorlage an den EuGH

Dass die gesetzlichen Bestimmungen und die darauf fußenden Tarifverträge, insbesondere die Tarifwerke der Zeitarbeit (BAP/DGB und iGZ/DGB), mit den europarechtlichen Vorgaben in Einklang stehen, wurde und wird in Abrede gestellt (vgl. Däubler, Überlegungen zu einer Klage auf Entgeltnachzahlung für Leiharbeitnehmer vom 28.05.2017, abrufbar unter: https://www.labournet.de/ wp-content/ uploads/2018/04/daeubler 280517.pdf). Sollte dies der Fall sein, wären – analog zur CGZP – zumindest Szenarien denkbar, die auf eine (mehr oder weniger flächendeckende) Gleichstellung von Zeitarbeitnehmern (u.a. hinsichtlich des Entgelts und darauf noch abzuführender Sozialversicherungsbeiträge) hinauslaufen würden.

Das BAG (Beschl. v. 16.12.2020 – 5 AZR 143/19 (A), vgl. hierzu Bissels/Falter, DB 2021, 2223) hat in diesem Zusammenhang den EuGH (Az. C-311/21) angerufen. Der Vorlage lag dabei folgender Sachverhalt zugrunde:

Der klagende Zeitarbeitnehmer X war im Zeitraum von Januar bis April 2017 bei dem beklagten Verleiher Y im Rahmen eines befristeten Arbeitsvertrages beschäftigt. X wurde dabei einem Unternehmen des Einzelhandels als Kommissionierer überlassen.

Nach einem Tarifvertrag für Arbeitnehmer im Einzelhandel in Bayern war vergleichbaren, unmittelbar von dem Einsatzunternehmen angestellten Arbeitnehmern ein Stundenlohn in Höhe von 13,64 EUR brutto zu zahlen. Das für das Arbeitsverhältnis zwischen X und Y geltende Tarifwerk iGZ/DGB wich jedoch von dem gesetzlich geregelten Grundsatz der Gleichstellung, insbesondere in Bezug auf das Arbeitsentgelt, ab. Infolgedessen erhielt X (mitgliedschaftlich in ver.di organisiert) ein Bruttoentgelt in Höhe von 9,23 EUR pro Stunde. 

X erhob bei dem ArbG Würzburg Klage auf Zahlung von 1.296,72 EUR als Ersatz der Differenz zwischen der ihm gezahlten und der vergleichbaren, unmittelbar vom Einsatzunternehmen eingestellten Mitarbeitern gewährten Vergütung und machte geltend, dass die einschlägigen Bestimmungen des AÜG und des Tarifvertrags der Zeitarbeit (hier: iGZ/DBG) gegen Art. 5 RL verstießen. Nach der Abweisung der Klage ging X in die Berufung beim LAG Nürnberg, das diese zurückwies. Gegen dieses Urteil legte X daraufhin Revision zum BAG ein, das den Streit inhaltlich nicht entschied, sondern beschloss, das Verfahren auszusetzen und dem EuGH einige Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen. Dabei spielen für das BAG u.a. zwei Aspekte eine wesentliche Rolle, nämlich in welchem Verhältnis der Grundsatz der Gleichstellung in Art. 5 Abs. 1 RL zum Begriff des nach Art. 5 Abs. 3 RL durch Tarifverträge zu achtenden „Gesamtschutzes von Zeitarbeitnehmern“ steht sowie inwieweit solche Tarifverträge gerichtlich daraufhin überprüfbar sind, ob sie diesen Gesamtschutz achten.

IV. Entscheidung des EuGH

Am 15.12.2022 hat der EuGH (Az. C-311/21) in der Sache entschieden; dabei ist das Gericht im Wesentlichen den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 14.07.2022 (abrufbar unter:https://curia.europa. eu/juris/document/document.jsf? text=&docid=262969&pageIndex=0 &doclang=de&mode=req&dir=&occ =first&part=1&cid=19422 dazu ausführlich: Bissels/Singraven, DB 2022, 2089 ff.) gefolgt. Aus dem Urteil ergibt sich zusammengefasst, dass:

- durch Tarifverträge vom Gleichstellungsgrundsatz (Art. 5 Abs. 1 RL) abgewichen werden kann; diese müssen aber den Gesamtschutz der Zeitarbeitnehmer nach Art. 5 Abs. 3 RL wahren. Dieses Kriterium stellt folglich nach Ansicht des EuGH einen verbindlichen Rechtsgrund- und nicht nur einen unverbindlichen Programmsatz dar (vgl. Franzen, EuZA 2022, 7 f. m.w.N.).

- auch bei einem mit einem Zeitarbeitnehmer nur befristet abgeschlossenen Arbeitsvertrag durch einen Tarifvertrag vom Grundsatz der Gleichstellung abgewichen werden kann; die Pflicht zur Achtung des Gesamtschutzes ist nicht mit dem Bestehen eines unbefristeten Arbeitsvertrages verknüpft, sondern gilt gleichermaßen bei befristeten Arbeitsverhältnissen. Ein unbefristeter Arbeitsvertrag ist folglich nicht erforderlich, so dass auch bei befristet beschäftigten Zeitarbeitnehmern eine Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz auf Grundlage von Art. 5 Abs. 3 RL durch Tarifvertrag – freilich unter Achtung des Gesamtschutzes – rechtlich möglich und zulässig ist (Franzen, EuZA 2022, 12 m.w.N; a.A. Zimmer, NZA 2013, 293 f.).

- die Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz, insbesondere hinsichtlich des Entgelts, durch einen Tarifvertrag für den Zeitnehmer einen Nachteil darstellt, der durch einen geeigneten Vorteil an einer anderen Stelle kompensiert werden muss, um damit den von der RL verlangten Gesamtschutz hinreichend umzusetzen. Der Ausgleich muss sich dabei auf die in Art. 3 Abs. 1 lit. f RL definierten wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, nämlich die Dauer der Arbeitszeit, Überstunden, Pausen, Ruhezeiten, Nachtarbeit, Urlaub, arbeitsfreie Tage und das Arbeitsentgelt, beziehen. Bereits diesen Umstand verkennt Däubler, wenn dieser in einer ersten Besprechung der Entscheidung des EuGH auf die verkürzten Kündigungsfristen in den Tarifverträgen der Zeitarbeit hinweist (abrufbar unter: https://www. labournet.de/politik/alltag/entlohnung/ die-anstalt-prof-wolfgangdaeubler- und-labournet-germanygesucht- leiharbeiterinnen-fuereine- klage-vor-dem-eugh-fuer-glei chen-lohn-und-gleiche-bedingungen- auch-in-deutschland/). Dieser Umstand ist unerheblich, betrifft diese Regelung nicht die von der RL genannten wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen; diese erfassen gerade nicht die Beendigung von Arbeitsverhältnissen.

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